MARIANNE LINDOW
 

ZUCKERSCHLECKEN

Marianne Lindow arbeitet in Zyklen, die sich thematisch aus gewonnenen Eindrücken und nachfolgenden Recherchen entwickeln. Aus Erlebtem und Gesehenem entstehen erste Skizzen in Bleistift, die zu präziseren Bildvorstellungen führen. In weiteren Papierarbeiten – für den Zyklus ZUCKERSCHLECKEN wurde Öl auf Papier verwandt – werden mögliche Farbräume, Auftragstechniken und Strukturen für die Leinwand ausgelotet. Die so entstandenen Guachen, die teils collagiert oder in dünnem, lasierendem Auftrag ein jeweils eigenes Ausdruckspotential entwickeln, übermitteln den streng konzeptuellen Ansatz, den Marianne Lindow in ihren Arbeiten verfolgt.

Die vier großformatigen Bilder ZUCKERSCHLECKEN I – IV, alle 2008 entstanden, entspringen keiner spontanen Geste, sondern zeigen sich in einer kühlen, distanzierten Präzision, die angesichts der angeschnittenen Thematik ein großes Spannungsfeld eröffnet. Das Moment der körperlichen und mentalen Hilflosigkeit, die in den abgebildeten Körpern offenbar wird – alle sind liegend, ohne Bewusstsein oder schlafend und beinahe nackt abgebildet – erzeugt Ängste, die jedem Lebewesen als Überlebensinstinkt mitgegeben sind. Auch ohne eigene konkrete Erfahrung lassen die sich in den Bildern aufgezeigten Situationen der Ohnmacht und Abhängigkeit als gefahrvoll wahrnehmen. Die Instrumentarien und Szenerien moderner Rettungs- und Versorgungstechnik, die den Körpern in undefinierten Räumen zugeordnet sind, tragen keinesfalls zur Beruhigung bei. Die pure menschliche Existenz ist in eine unpersönliche, möglicherweise jedoch lebensrettende Umgebung eingebettet. Assoziationen an Krankheit und Tod, die aber in keinem Bild tatsächlich verifiziert werden, treten in den Hintergrund.

Die geschlossene, geradezu hermetische formale Lösung, die Marianne Lindow für die Umsetzung dieser Thematik wählt, setzt die wesentlichen Akzente dieses Zyklus. Die beherrscht lasierende, nur in wenigen Bildpassagen einen Duktus zulassende Auftragstechnik, lässt eine persönliche Emphase mit den abgebildeten Körpern an der Oberfläche abgleiten.

Selbst das Baby in seinem Versorgungsraum – er ähnelt mehr einer Schaufenstervitrine, als einem Brutkasten – löst sich weitestgehend von einem emotionalen Zugriff ab. Die Bestandsaufnahme, die den Bildern unterliegt, zeigt jedoch über das erste Entsetzen hinaus einen Widerstand, der über die bildtechnische Umsetzung eingeleitet wird. Durch die konzeptionelle Stringenz der Arbeiten entwickelt sich die inhaltlich vielschichtige Anlage der Bildmotive und erzeugt neben einer unmittelbaren Schockwirkung eine Vorstellung von Widerstand und Potential.

Regina Schulz-Möller, 2008
Pressemitteilung zur Ausstellung ZUCKERSCHLECKEN in der galerie moeller, Bonn.

 

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